Donnerstag, 19. Dezember 2013

Ein Teller Zimtsterne


Zwei Tage vor dem Weihnachtsfest tanzten die ersten Schneeflocken durch die Luft und legten sich auf die Straßen und Häuser der kleinen Stadt, in der Emma lebte.
Emma rannte vergnügt zum Fenster und sah hinaus. Die Laterne vor dem Haus, die Autos und jeder Stein sah aus, wie mit Puderzucker bestreut. Sogar die Menschen hatten weiße Häubchen auf ihren Köpfen.
Das war herrlich, fand Emma. Noch zwei Tage bis Weihnachten und schon jetzt sah alles festlich aus. Schnee gehörte für Emma einfach zum Heiligen Abend, genauso wie der Tannenbaum, das Krippenspiel und Plätzchen backen. In diesem Jahr schneite es kräftig, und immer dickere Flocken fielen vom Himmel herunter.
Emma war sehr glücklich!
Sie lehnte sich ans Fenster und beobachtete das Treiben auf der Straße. Dann blickte sie zum Haus gegenüber. Einige Fenster waren dunkel, in anderen blinkten bunte Lichter und einige waren einfach nur erleuchtet vom Schein der Zimmerlampen.
Ganz oben unter dem Dach wohnte Katja, Emmas beste Freundin. Die Fenster ihres Zimmers waren mit goldenen Papiersternen geschmückt. Die hatte sie in der Schule gebastelt. Emma hatte silberne Sterne gebastelt, die jetzt alle im Weihnachtsbaum hingen.
Das Fenster im zweiten Stock beobachtete Emma in der letzten Zeit oft. Dort wohnte der alte Herr Lehmann. Er saß abends immer im Dunkeln an seinem Fenster und sah hinaus. Emma hatte zwar das Gefühl, dass er sie bemerkt hatte, aber er sah nie zu ihr herüber. Als Frau Lehmann noch lebte, war alles ganz anders gewesen. Da hatte Herr Lehmann manchmal freundlich genickt oder kurz gewunken. Und zur Weihnachtszeit hatte sogar ein Stern im Fenster geblinkt. Im letzten Sommer war Frau Lehmann gestorben, und das Fenster blieb nun dunkel.
Emma war ein lustiges Mädchen, das gern laut lachte, aber wenn sie an Herrn Lehmann dachte, dann wurde sie doch traurig.
„Niemand sollte Weihnachten so alleine im Dunkeln an seinem Fenster sitzen“, sagte sie und ging zu ihrer Mutter in die Küche.
„Willst du mir helfen?“, fragte diese, aber sie sah sofort, dass ihre Tochter mit ihren Gedanken ganz weit weg war. „Australien oder Afrika? Woran denkst du gerade?“
Emma schmunzelte. Nein, an andere Kontinente hatte sie nicht gedacht. Ihr ging einfach der alte Herr Lehmann nicht aus dem Kopf.
„Ich hab’ mir was überlegt.“ Emma sah ihre Mutter mit großen Augen an und zog dabei eine Augenbraue hoch. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie eine gute Idee hatte oder nur wieder einen Flop landen würde. So nannte es jedenfalls ihre Freundin Katja immer, wenn irgendetwas völlig anders verlief als geplant.
„Erzähl’ schon. Worum geht es denn?“. Emmas Mutter war neugierig geworden. Sie setzte sich an den Küchentisch, auf dem sich schon Mehl, Zucker, Rosinen und andere Backzutaten häuften, und deutete auf einen weiteren Stuhl. Emma setzte sich. Erst druckste sie ein bisschen, aber dann erzählte sie von ihren Beobachtungen.
„Ja, das ist schon traurig, aber was kannst du tun?“, fragte die Mutter, und dabei ahnte sie schon, dass ihre Tochter längst einen Plan hatte.
   Am nächsten Tag wurden die letzten Weihnachtsvorbereitungen getroffen. Der Vater half bei den letzten Einkäufen, die Mutter verpackte noch die letzten Geschenke, und Emma bereitete einen leckeren Teig aus Vanille und Zimt zu. Am liebsten hatte sie nämlich Zimtsterne, und die wollte sie auch backen. Sie wirbelte zwischen Mehl und Puderzucker herum. Eier platschten in eine Schüssel, der Mixer heulte, dann wieder sang eine fröhliche Kinderstimme:
„Weihnachtszeit, schöne Zeit, bin schon für das Fest bereit“.
Am Abend blickte Emma stolz auf einen großen Teller voller Zimtsterne. Einen zweiten, kleinen Teller hatte sie daneben gestellt und ebenfalls reichlich Gebäck draufgelegt.
In dieser Nacht schlief sie tief und fest.
Gleich nach dem Wachwerden setzte sich Emma an ihren Schreibtisch, der gleich neben dem Fenster stand. Wenn sie den Kopf zur Seite beugte, konnte sie die Fenster des gegenüberliegenden Hauses sehen. Herr Lehmann war nicht da.
Bestimmt schläft er noch, dachte sich Emma und holte ihre Buntstifte aus der Schultasche hervor. Dann nahm sie ein weißes Blatt und begann zu malen. Schön bunt und fröhlich sollte das Bild werden, aber am meisten benutzte sie doch den goldenen Stift.
Sie malte einen Engel mit goldenen Haaren. Eine goldene Trompete war oben links in der Ecke. Goldene Sterne blinkten überall auf dem Bild. Nur unten rechts hatte sie eine rote Kerze gemalt.
Am Nachmittag als es langsam dunkel wurde, zog sich Emma ihre Stiefel und die dicke Jacke an.
„Es ist soweit, Mama, ich gehe jetzt!“, rief sie ihrer Mutter zu. Sie nahm den Teller mit den Zimtsternen, den die Mutter mit Weihnachtspapier umwickelt hatte. Das Bild mit dem Engel hatte sie gefaltet und in ihre Jackentasche gesteckt.
Sie ging hinunter auf die Straße. Der Schnee wirbelte wild, und eine dicke Flocke platschte auf ihre Nase. Emma ging weiter. Sie guckte nach links und rechts als sie die Straße überquerte, aber es war kein Auto unterwegs.
Die Leute feiern alle schon das Weihnachtsfest, dachte sie sich.
Dann stand sie vor dem Klingelschild vom Haus, in dem Katja und Herr Lehmann wohnte. Eigentlich wollte sie die Kekse einfach vor Herrn Lehmanns Tür legen. Sie sollten ja eine Überraschung sein. Aber nun musste sie wohl doch klingeln, um ins Haus zu kommen. Daran hatte sie nicht gedacht.
In diesem Moment sagte jemand:
„ Hallo, bist du die Katja?“
Emma fuhr herum und konnte es kaum glauben. Da stand tatsächlich der Weihnachtsmann vor ihr. Sie konnte gar nicht sprechen vor Aufregung, deshalb schüttelte sie nur den Kopf.
„Wie heißt du denn? Willst du ins Haus?“
Der Weihnachtsmann war aber sehr neugierig, fand Emma.
In diesem Augenblick hatte sie aber eine tolle Idee.
„Wenn du zu Katja gehst, würdest du mir dann einen Gefallen tun?“. Emma konnte wieder reden. So erzählte sie dem Weihnachtsmann von den Zimtsternen und von Herrn Lehmann.
„Die Zimtsterne sollen ein kleines Geschenk sein“, endete Emma.
Der Weihnachtsmann nickte, nahm den Teller und drückte auf den Klingelknopf. Der Summer ertönte, und die Tür sprang auf. Weihnachtsmänner müssen also auch klingeln, stellte sie überrascht fest.
Doch dann fiel ihr etwas Wichtiges ein.
„Halt!“, rief Emma und griff in ihre Jackentasche. „Hier, das gehört noch dazu.“
Sie reichte dem Weihnachtsmann ein zusammengefaltetes Stück Papier. Der Weihnachtsmann nickte, nahm das Papier und verschwand im Haus.
   Emma wartete in ihrem Zimmer darauf, dass die Mutter kam und sie ins Wohnzimmer holte. Dort wurde die Bescherung gefeiert. Alles war ganz ruhig und feierlich. Ganz leise hörte sie „Stille Nacht“ erklingen.
Emma ging noch mal ans Fenster. Sie war neugierig, aber sie hatte auch Angst, enttäuscht zu werden.
Sie wurde nicht enttäuscht. Am Fenster im zweiten Stock saß Herr Lehmann. Er hatte eine kleine, rote Kerze angezündet und blickte auf ein Stück Papier, das er in den Händen hielt. Ein warmes, glückliches Gefühl kribbelte in Emmas Bauch.
Ich werde ihn mal besuchen, überlegte sie.
In diesem Augenblick drehte Herr Lehmann seinen Kopf zu ihr herüber und lächelte. Dann griff er zum Teller, nahm einen Zimtstern und steckte ihn in seinen Mund.
Emmas Plan war geglückt. Sie erlebte ein wunderschönes Weihnachtsfest, und auch Herr Lehmann konnte wieder ein bisschen lächeln.
„Vielleicht will Herr Lehmann im nächsten Jahr mit uns feiern“, flüsterte sie der Mutter ins Ohr, während der Vater ganz laut „Oh, du fröhliche…“, sang.


„Ja, vielleicht will er das!“, lächelte die Mutter.

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